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„Abhängigkeit verschwindet nicht“ – Abstinenzgruppe Petershagen sucht neue Mitglieder

„Jedes Trinkverhalten ist anders. Doch wenn der Punkt erreicht ist, muss was passieren“
Iris von Piwenitzky und Volker Wiese von der Abstinenzgruppe Petershagen.

Petershagen. „Jedes Trinkverhalten ist anders. Doch wenn der Punkt erreicht ist, muss was passieren“, wissen Volker Wiese und Iris von Piwenitzky aus jahrzehntelanger Erfahrung mit Alkoholabhängigen. Ihr Ziel ist es, zufriedene Abstinenz bei allen Hilfesuchenden zu erlangen, die sich an ihre Selbsthilfegruppen wenden. Doch der altersbedingte Mitgliederschwund ist nicht mehr wegzudenken. Die Abstinenzgruppe Petershagen benötigt neue Mitglieder zur Unterstützung bei der Suchtkrankenhilfe.

Spätestens mit Urteil des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1968 steht fest: Trunksucht ist eine Krankheit. Wer unter Alkoholabhängigkeit leidet, hat eine Chance auf Heilung; wer sich der Krankheit stellt, ein Recht auf Übernahme der Behandlungskosten. Mit der Entgiftung alleine sei es aber nicht getan. Nervenzellen würden bereits geschädigt, die Hirnstruktur habe sich verändert und die Sucht Spuren in der Familie, unter Freunden und Arbeitskollegen hinterlassen. „90 bis 95 Prozent spielt sich täglich im Gehirn der Suchtkranken ab“, erklärt Wiese, 1. Vorsitzender der Abstinenzgruppe Petershagen, in einem Interview und betont: „Alkoholabhängigkeit ist wesensverändernd und für die Familie extrem belastend.“

„Oft sind es die Frauen, die sich zuerst an uns wenden, wenn ein Familienmitglied betroffen ist“, erklärt von Piwenitzky, Frauenbeauftragte der Abstinenzgruppe Petershagen, im Interviewtermin. Wobei Männer und Frauen gleichermaßen betroffen seien. Darüber hinaus ziehe sich Alkoholismus durch sämtliche Gesellschaftsschichten. Die Erkenntnis folge meist erst, wenn ein einschneidendes Ereignis stattfinde wie der Führerschein- oder Arbeitsplatzverlust, die Trennung oder Scheidung. „Bei uns können sie sich austauschen und mehr über ihre Krankheit erfahren. Wir haben gemischte Gruppen und Frauengruppen. Zwar kann man bei uns auf Leute treffen, die man kennt, weshalb Hilfesuchende aus Minden nach Petershagen kommen und umgekehrt“, so die 66-Jährige. „Aber wir haben den Vorteil, kein Psychologe oder Therapeut zu sein, die eben das Gelernte umsetzen. Wir sind ehemals Betroffene und wissen genau, wovon die Menschen sprechen, die zu uns kommen“, verdeutlicht Wiese. Außerdem arbeite man mit Fachkliniken aus der Region zusammen. Und das alles seit fast 50 Jahren.

Die Abstinenzgruppe Petershagen wurde 1973 von zwei Männern gegründet, die sich nach erfolgreicher Therapie und einem Gruppenbesuch beim Diakonischen Werk in Minden einer Selbsthilfegruppe in Dehme anschlossen, die sich mit Alkoholproblemen befasste. Die Idee gefiel ihnen so gut, dass sie beschlossen, zusammen mit zwei Herren vom Diakonischen Werk und einem engen Wegbegleiter eine eigene Gruppe zu bilden. Die ersten Gespräche fanden bei einem Pastor statt. Im Laufe der Zeit wechselten die Standorte, bis man 1984 nach Lahde zum Bultweg 6 umzog – dem heutigen Vereinshaus. 2008 wurde der Abstinenzgruppe Lahde sogar der „Spitze in Petershagen“-Förderpreis für besonders ehrenamtliches Engagement für Alkoholkranke verliehen. Im Herbst 2015 konnte der Verein rund 200 Mitglieder zählen und damit den Höchststand seit Gründung.

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Inzwischen ist die Mitgliederzahl jedoch alters- und coronabedingt auf 80 gesunken. Ein unhaltbarer Zustand, der sich nun ändern soll. „Die Abhängigkeit bleibt ja“, so Wiese, „sie verschwindet nicht von selbst.“

Die liebevoll dekorierten, hell und freundlich eingerichteten Räumlichkeiten am Bultweg bieten genügend Platz für (offene) Gruppenabende, Jahreshauptversammlungen sowie gemeinsame Veranstaltungen aller Art, darunter Grünkohlessen, Adventsfrühstücke, Grillen auf der Terrasse, Osterkaffeetrinken und Knobeln, um nur einige zu nennen. Zudem befürworte man sportliche Aktivitäten. Besonders stolz ist Wiese auf die Skatgruppe. „Früher hat man in der Kneipe bei Bier und Schnaps Skat gespielt. Bei uns hat sich der Stammtisch in den Gruppenraum verlagert und kommt ohne Alkohol aus.“

Neuzugänge, die sich bei der Abstinenzgruppe Petershagen ehrenamtlich engagieren wollen, sollten demnach einen persönlichen Bezug zum Thema Alkoholismus aufweisen und sich tatkräftig mit einbringen. „Wir wissen genau, dass es noch zu viele Leute gibt, die uns brauchen“, meinen Wiese und von Piwenitzky.

Betroffenen rät Wiese beispielsweise komplett davon ab, auf alkoholfreies Bier umzusteigen. Damit befriedige man nur seine Sucht, erklärt der 56-Jährige. „Ich kenne Leute, die 20 Jahre lang trocken waren. Dann haben sie ein alkoholfreies Bier probiert und Zack war der Übergang zum Alkohol wiederhergestellt.“ Und wie steht es mit den berühmt-berüchtigten Pralinen, die Alkohol enthalten? „Kommt darauf an“, antwortet der Vorsitzende. „Jeder reagiert auf irgendwas anderes. Wir sprechen dabei von Trigger-Punkten.“

Auslöser (englisch „trigger“) für eine Rückfälligkeit könne zum Beispiel das bloße Anfassen einer Bierdose sein oder wenn der Durst auf ein Softgetränk wie Limonade aus einem Bier- oder Schnapsglas gestillt werde. „Alles, was mit der eigenen Alkoholsucht assoziiert wird, sollte vermieden werden“, empfiehlt Wiese.

Auch die Co-Abhängigkeit (zum Beispiel unter Ehepartnern) sei nicht zu unterschätzen, erläutert Wiese weiter. Wiederholte Aussagen wie „ist ja nicht so schlimm, er hat ja nicht so viel getrunken“, damit die gute Gesellschaft gewahrt bleibe, bedeute Alkoholabhängigkeit. Anschließend folge die Phase des Ignorierens, bis letztlich der Respekt gegenüber der Person verloren gehe.

Aus diesen Gründen richtet sich die Abstinenzgruppe Petershagen e.V., in Zusammenarbeit mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Freundeskreise Suchtkrankenhilfe Westfalen, an Alkoholabhängige und Angehörige. „Nur gemeinschaftlich können wir den Betroffenen helfen.“

Text und Foto: Namira McLeod

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