Samstag, 27. April 2024

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Aus dem Leben Petershäger Wildschweine – Soziologie und Populationsdynamik des Schwarzwildes in der Weseraue

Petershagen. Die Weseraue  bietet einen nahezu optimalen Lebensraum für das Schwarzwild – Wasser, Nahrung, Suhlen und Malbäume sind in großer Menge vorhanden. Zudem werden die Wildschweine in diesem Bereich nicht bejagt. Aber die stetig steigende Population von Schwarzwild bringt auch Probleme mit sich. Im Rahmen der Serie „Spannungsfeld Weseraue“ zeigen wir in dieser Ausgabe die Soziologie, die Populationsdynamik und den bevorzugten Lebensraum der Wildtiere auf und beleuchten in der nächsten Ausgabe, welchen Wechselwirkungen es dadurch in der Weseraue gibt.

Soziologie

Schwarzwild, auch als Wildschweine bezeichnet, leben überwiegend in Familienverbänden, die Rotten genannt werden. Die Rotten sind mutterorientiert, also matriarchalisch ausgerichtet. Die älteste reproduktive Bache (weibliches Wildschwein) wird als Leitbache bezeichnet und kann als Schlüsselfigur gelten. Sie synchronisiert die Lebensabläufe in der Sippe, insbesondere das Aufsuchen von Nahrungsorten und Einständen.

Untersuchungen zeigten, dass die Familienverbände überwiegend aus kleineren Rotten mit ein bis zwei Bachen und ihren Frischlingen bestehen. Dazu kommen so genannte Überläufer, das ist Schwarzwild beiderlei Geschlechts im zweiten Lebensjahr. Männliche Überläufer werden mit Erreichung der Geschlechtsreife von der Mutterrotte ausgeschlossen. 

Insbesondere männliche Überläufer bilden sodann Überläuferrotten. Auch weibliche Überläufer können, zumindest zeitweise, kleinere Überläuferrotten bilden. Eine Abtrennung erfolgt spätestens nach der Rauschzeit, wenn sich beschlagene Rottenmitglieder zum Frischen absondern. Darüber hinaus konnten auch Frischlingsrotten beobachtet werden. Es kann vermutet werden, dass sich diese Verbände überwiegend dann bilden, wenn die Leitbache durch falsche Bejagung, Unfallgeschehen oder natürliche Mortalität ausfällt. Bei dauerhaft einzeln ziehenden Stücken handelt es sich überwiegend um ältere männliche Stücke (Keiler).

Interessant in diesem Zusammenhang sind die Erkenntnisse durch telemetrische Untersuchungen. Demnach kommt es, jahreszeitlich und individuell unterschiedlich, zu temporären Trennungen der Familienverbände. Eine Teilungshäufigkeit ist vermehrt bis in das Frühjahr zu beobachten, während eine erhöhte Stabilität der Rottenstrukturen im Sommer zu vermerken sind. Als Gründe hierfür konnten intrafamiliäre Konkurrenzen, aber insbesondere auch eine dadurch optimierte Nahrungsnutzung festgestellt werden. Die Rottenstruktur ist nur schwer zu erfassen, da sie sich im Laufe des Jahres immer wieder verändert. So kommen neue Frischlinge hinzu, während gleichzeitig Teilungen, zum Beispiel durch das Abschlagen von Überläufern, vollzogen werden. Auf Grund der Umstrukturierungen und temporären Teilungen kommen alle möglichen Konstellationen vor.

Verhalten

In den festgestellten Aktivitätszeiträumen der beobachteten Schwarzwildrotten kommt der überwiegende zeitliche Anteil der Nahrungssuche und -aufnahme zu. Ein weiterer, nicht unbedeutender Teil der Aktivitätsphasen stellt das so genannte Komfortverhalten dar. Dabei handelt es sich um das Aussuchen von Suhlen – in der Jägersprache die Bezeichnung für eine morastige Bodenvertiefung – und Malbäumen, das sind Bäume, an denen sich die Wildschweine scheuern, um ihr Wohlbefinden zu steigern. Die Aktivitätsphasen der beobachteten Schwarzwildrotten beträgt im Winter durchschnittlich 9 Stunden und 45 Minuten. In den Sommermonaten nutzen Sauen zumeist vollständig die Nachtstunden, zeigen jedoch zudem auch eine höhere Tagesaktivität. Eine höhere Aktivität wird Untersuchungen nach begünstigt, wenn Wege und Gebäude mehr als 150 Meter von den Einständen, an denen das Schwarzwild ruht, entfernt liegen. Schwarzwild kann als standorttreu bezeichnet werden. Telemetrische Untersuchungen belegen einen eher kleinräumigen Aktionsradius von durchschnittlich vier Kilometern.

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Populationsdynamik

Dass das Schwarzwild über sehr hohe Zuwachsraten verfügt, ist unstrittig und vielfach belegt. Bei optimaler Nahrungsverfügbarkeit sind Reproduktionsraten von 250 bis 300 Prozent, bezogen auf den weiblichen Frühjahresbestand möglich. Begünstigt wird dies durch die geringe Spezialisierung des Schwarzwildes bezogen auf die Nahrungs- und Lebensraumnutzung. Schwarzwild zeigt eine hohe ökoethologische Variabilität auf. Dies zeigt sich insbesondere auch durch die große Bandbreite verschiedener Lebensräume, welche genutzt und relativ schnell besiedelt werden.

Die hohen Zuwachsraten werden durch verschiedene Faktoren günstig beeinflusst. Die vermehrt vorkommenden Mastjahre und die Verfügbarkeit energiereicher Feldfrüchte verhindern Nahrungsengpässe. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die stetig gestiegene Landnutzung durch vermehrten Maisanbau hinzuweisen. Die ebenso immer häufiger feststellbaren milden Winter verhindern eine hohe Mortalitätsrate, insbesondere unter den Frischlingen. Auch die immer noch zu geringe jagdliche Einflussnahme, vor allem in der Frischlingsklasse, begünstigt zusätzlich die Vermehrungsrate. Weibliches Schwarzwild wird ab einem Gewicht von rund 20 Kilogramm geschlechtsreif. Die Geschlechtsreife ist weniger vom Alter, als von der Gewichtserreichung abhängig. Dies hat zur Folge, dass weibliche Frischlinge, bei guter bis optimaler Nahrungsverfügbarkeit, bereits sehr früh am Reproduktionsgeschehen teilhaben.

Übermäßige jagdliche Kirrungen (das Auslegen von Lockfutter) können zudem das Nahrungsangebot, insbesondere in Mangelzeiten, verbessern. Angesichts des Einflusses von Mastjahren, mit 600 bis 1200 Kilogramm pro Hektar in Eichenbeständen und 400 bis 800 Kilogramm pro Hektar in Buchenbeständen, auf die Nahrungsverfügbarkeit, muss der Einfluss jagdlicher Kirrungen jedoch relativiert werden. Der Rückgang der Sauenstrecken nach Mastjahren täuscht einen Bestandsrückgang vor. In Realität verbleiben Wildschweine in diesen Jahren verstärkt im Wald und dort wurde nicht ausreichend bejagt. 

Lebensraum 

Zahlreiche Untersuchungen zeigen auf, dass der Wald grundsätzlich als bevorzugter Lebensraum, auch Habitat genannt, des Schwarzwildes gelten darf. Reine Offenlandschaften werden vom Schwarzwild eher gemieden. Telemetrie gestützte Untersuchungen zur Raum- bzw. Habitatnutzung durch das Schwarzwild kommen jedoch zu differenzierteren Feststellungen. Demnach ist der wesentliche Faktor für die Habitatnutzung die Verfügbarkeit von Ressourcen. Als Ressourcen in diesem Zusammenhang können insbesondre Wasser, Nahrung, Suhlen, Malbäume und potentielle Sexualpartner gelten.

Schwarzwild zeigt sich in der Frage der Habitatnutzung flexibel und individuell sehr unterschiedlich. Wesentlichen Einfluss auf die Wahl des Einstandes haben auch der Schutz vor Witterung und Störungen. So werden Strauch- und Baumbestände präferiert, die einen Deckungsgrad von  mehr als 50 Prozent aufweisen. Schilfbestände sind beim Schwarzwild ganzjährig beliebt. In Sommermonaten konnte zudem ein Verbleiben von Rotten in größeren Raps- und Maisbeständen festgestellt werden. Bezogen auf die Flächen des Vogelschutzgebiets Weseraue kann abgeleitet werden, dass diese für das Schwarzwild eine besondere Attraktivität besitzen.

Neben ausgedehnten Schilfflächen, dem sicheren Vorhandensein von Wasser und Suhlen, besteht eine günstige räumliche Nähe zu Nahrungsquellen in Form von nahegelegenen landwirtschaftlichen Flächen, aber auch zu Wiesen mit einem eiweißreichen Nahrungsangebot. Dies gilt insbesondere für das Frühjahr, wo das Schwarzwild einen stark erhöhten Eiweißbedarf decken muss und die entsprechende Verfügbarkeit von Wiesenbrütern und deren Gelegen in der Fläche des Vogelschutzgebiets Weseraue störungsfrei zu finden ist. Das Vorhandensein einer deckungsreichen Fauna, neben den Schilfgürteln insbesondere die dichte Strauchvegetation, begünstigt die Flächen als Einstandsgebiet. Hinzu kommt als wesentlicher Faktor die Störungsarmut im genannten Bereich durch das Fehlen von menschlicher Nutzung wie Spaziergänger, Landwirtschaft oder Angler. Der Ausschluss jeglicher jagdlicher Aktivität in dem Gebiet optimiert den Bereich als Lebensraum.

Text: Jens Sachs, Fotos: Tobi Reimann

 

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